Mitten in seiner Vorlesung an der Kölner Universität wird Lennart Halm herausgerufen: ein Kriminalbeamter teilt ihm mit, dass seine Zwillingsschwester Luise an diesem Morgen bei einem Attentat auf die Metro in Barcelona umgekommen sei. Der IS habe sich zu der Tat bekannt.
Halm geht benommen nach Hause, denkt, fassungslos vor Trauer und Entsetzen, über seine Schwester und ihr besonderes Verhältnis zueinander nach, verfolgt die Sondersendungen im Fernsehen und fliegt nach Barcelona, noch am gleichen Tag. Dort gelandet, nimmt er sofort ein Taxi zu der Metrostation, wo der Anschlag verübt worden war – 82 Tote, eine davon seine Schwester.
Halm will wissen, wie sie, die in letzter Zeit wenig Kontakt zu ihm hatte, in Barcelona gelebt hat. Er findet die Wohnung, bricht dort ein und wundert sich, wie kärglich es dort aussieht: Er erinnert sich an ihre letzten Mails, in denen sie gegen die Konsumgesellschaft wütete und von neuen, »höheren Zielen« sprach.
Im Polizeikommissariat, das die Ermittlungen führt, wird ihm gesagt, seine Schwester habe »dunkle Flecken« in ihrem Leben gehabt. Halm ist aufgebracht, er vermutet, die Polizei versuche irgendetwas Abstruses zu konstruieren. Doch dann taucht ein Foto auf, das Luise völlig verschleiert, mit einem Baby auf dem Arm zeigt – neben ihr ein Mann mit einer Kalaschnikow vor der Brust. Helm versucht sich vorzustellen, wie das Foto entstanden sein könnte, vielleicht ein Fake, um Luise unter Druck zu setzen? Langsam dämmert die Erkenntnis, dass Luise kein Opfer, sondern Täterin sein könnte, eine furchtbare Entdeckung. Aber wie konnte sie sich so radikal verändert haben? Ausgerechnet sie, die selbstbewusste, mutige und von ihm bewunderte Schwester?
»Ich hab sie nicht gemocht! Dauernd hat sie diese Typen ins Haus gebracht. Na ja, Sie wissen schon! Solche halt, wie man sie inzwischen überall auf der Straße sieht. Die kommen hierher, um unseren Leuten die Arbeit wegzunehmen! Ausländer eben!«
»Schämen Sie sich, so zu reden!«, mischte Anne sich in ihr Gespräch ein.
»Ich sag’ nur meine Meinung«, raunte der Alte ungerührt und ließ seinen erloschenen Blick zwischen ihnen hin und her springen. »Die kann mir keiner verbieten!«
»Die Frau, über die wir hier reden, war seine Schwester und kam gestern bei dem Terroranschlag ums Leben«, sagte Anne.
»Kein Wunder, bei dem Umgang!«, erwiderte der Alte unbeeindruckt.
»Lassen Sie ihn!«, sagte Anne unwirsch, packte Halm am Arm und zog ihn weg. »Kommen Sie!«
»Geschieht ihr ganz recht«, rief der Alte ihnen untermalt vom Kläffen des Hundes hinterher und drückte hastig die Tür zu. Sie hörten, wie der Schlüssel sich wieder im Schloss drehte.
Christoph Schröder Saarländischer Rundfunk SR2
Peter Henning wandelt stets auf einem schmalen Grat zwischen flotter Story und hoher Unterhaltsamkeit, zwischen Kolportage und Action. Er interessiert sich für pralle Stoffe, für große Geschichten, die den Anspruch haben, historisches und authentisches Material mit einem fiktionalen Spannungsbogen zu versehen. Die Tote von Sant Andreu‹ ist eine in sich geschlossene psychologische Versuchsanordnung, erzählt mit den Mitteln eines sauber konstruierten Spielfilms. Das geht, wie so oft bei Peter Henning, haarscharf gut.
Werner Jung Junge Welt
Hennings Erzählkunst ist deshalb so beeindruckend, weil er in seinen Romanen mit Andeutungen und Aussparungen arbeitet. Er gibt keine Erklärungen und Interpretationen vor, sondern fordert die Aktivität seiner Leser. In immer neuen Annäherungen und Umkreisungen, Befragungen seiner Kindheits- und Jugenderlebnisse versucht Halm sich und seiner Schwester, ihrer gemeinsamen Beziehung näherzukommen – das Unvorstellbare zu begreifen.
Junge Welt, 27.10.2020
Günther Grosser Berliner Zeitung
Ulrich Sonnenberg Hessischer Rundfunk hr2
Manuela Reichhardt RBB Kulturradio, 25.5.2020
Das Wahnsinnige und das ist sehr eindrucksvoll beschrieben, ist wie sich etwas ändert. Denn es stellt sich heraus, dass das Opfer nicht Opfer ist, sondern Täterin. Das Starke in diesem Roman ist dieses fassungslos sein, zuerst Trauer und Schmerz, dann Mut und Verzweiflung, denn nichts wird mehr so sein, wie es war.
Connie Haag Bibliotheksservice, Mai 2020
Sprachlich sehr auf den Punkt kommend, ist dies einer der besten Romane, die Henning veröffentlicht hat: Das Trauma des Terrors und seiner Folgen werden parallel geführt zur Entfremdung zweier Geschwister.
Lucia Schöllhuber Freundin
Thomas Wörtche Buchkultur + Kaliber .38 Leichenberg
»Der Plot ist ja bekanntlich essentiell für Kriminalliteratur. Wirklich? Ein Beispiel für einen erheblich unter-plotteten Roman bietet Peter Hennig«, meint Thomas Wörtche in seiner Kolumne »Quick ’n’ Dirty« der aktuellen »Buchkultur«: »… der schmale Roman besticht durch die Seriosität, mit der Henning seine ›großen‹ Themen angeht: Was muss passiert sein, dass eine kluge, schöne und eigenwillige Frau aus den deutschen Mittelschicht, sich dem IS anschließt und gegen alle ihre früheren Überzeugungen handelt? Und wie gut können selbst sich nahestehende Menschen einander kennen? Und welche gesellschaftlichen Kräfte sind bei solchen Prozessen im Spiel? Es spricht sehr für Henning, darauf keine Antworten zu liefern, sondern das Kerngeschäft guter Kriminalliteratur zu betreiben: Die wirklich ›bösen‹ Fragen zu stellen und dahin zu gehen, wo es wehtut. Und so ganz nebenbei ist ihm ein hübsches, kleines Stadtporträt von Barcelona gelungen.«
2/2020, April
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